Interview-Beitragsfoto

Interview KLEINE ZEITUNG 28.11.2015

Im Rahmen des diesjährigen Grazer Kongresses für Allgemeinmedizin wurden wir von der KLEINEN ZEITUNG zu einem Interview zu unserem Fach eingeladen. Hier der gesamte Wortlaut:

„Wir sind Ganzheitsmediziner“

Er ist seit 30 Jahren Hausarzt, sie gerade in der Ausbildung: Vater und Tochter erzählen von neuen Herausforderungen in der Allgemeinmedizin wie Dr. Google, Vertrauensverlust und die Herrschaft der Technik.

Kl.: Frau Wendler, alle sprechen von Landärztesterben, Sie haben sich für die Allgemeinmedizin entschieden. Warum?

MARIA WENDLER: Was mich an der Allgemeinmedizin begeistert, ist das breit gefächerte Arbeiten: Wir haben das ganze Spektrum, vom Kind bis zum alten Menschen. Außerdem steht in der Hausarzt-Praxis das Betreuen mehr im Mittelpunkt: Man begleitet Patienten über viele Jahre, man bekommt einen Einblick in den Alltag, erfährt Dinge, die einem die Augen öffnen. Das macht viel Spaß.

MICHAEL WENDLER: Ich sage immer, wir sind Ganzheitsmediziner: Es braucht natürlich das medizinische Wissen, aber wir kennen auch die Familiengeschichte, die sozialen Umstände von Patienten, was gerade bei alten Menschen wichtig ist.

Kl.:Das Thema alte Menschen ist eine große Herausforderung für die Medizin: Mit dem Alter leiden wir an immer mehr Krankheiten, nehmen immer mehr Medikamente. Welche Rolle spielt hier der Hausarzt?

MICHAEL WENDLER: Diese geriatrischen Patienten werden sich in den nächsten zehn Jahren verdoppeln – und das wäre eine Zukunftsrolle für den Hausarzt, die Begleitung bis zum Lebensende. Hier ist es besonders wichtig, abwarten zu können, einen Schritt zurückzugehen und den ganzen Menschen zu betrachten. Nicht jedes neue Wehwehchen braucht ein neues Medikament.

Kl.: Der Hausarzt sollte der erste Ansprechpartner sein. Immer öfter wird er aber umgangen, der Weg führt zu Fachärzten oder in Spitalsambulanzen. Haben Hausärzte ein Vertrauensproblem?

MICHAEL WENDLER: Ich denke, es ist ein Wertschätzungsproblem. Unsere Arbeit wird von vielen Kollegen nicht verstanden, es wird der Eindruck vermittelt: Technik ist alles, die sprechende Medizin, die wir betreiben, zählt nicht. Außerdem ist die Lotsenfunktion des Hausarztes durch die E-Card völlig verloren gegangen.

MARIA WENDLER: In unserer schnelllebigen Zeit wurde der Hausarzt zu einem Service-Leister degradiert: Rezepte schreiben, Überweisung ausstellen, dann geh ich zum Spezialisten. Außerdem spielt Dr. Google eine immer größere Rolle, es wird aber zu selten hinterfragt, was da steht. Nicht bei jedem Knieschmerz braucht es ein MRT.

Kl.: Dr. Google wird immer öfter als Erstratgeber zurate gezogen. Wie geht man als Arzt damit um?

MICHAEL WENDLER: Einzelne Patienten sind sich der Gefahr der Internetportale bewusst, aber das ist die Minderheit. Die Mehrheit hat irgendwelche Beschwerden, und googelt. Am nächsten Tag kommen sie völlig verunsichert in die Praxis, denn sie können nicht zwischen guter und schlechter Information unterscheiden. Das ist kein Gewinn, sondern ein Problem. Ich muss ihnen klar machen, dass das Naheliegende auch das Wahrscheinliche ist. Schnupfen kann von Syphillis kommen, meistens ist es aber nur eine Erkältung.

Kl.: Aber woher kann ich denn wissen, dass mein Arzt gut und am neuesten Stand der Wissenschaft ist?

MICHAEL WENDLER: Es stimmt, ich weiß als Patient nicht, wie gut mein Arzt ist, weil es in Österreich keine Qualitätssicherung gibt. Aber ich kann es an gewissen Dingen erkennen: Das sind zum Beispiel Serviceleistungen, erinnert mein Arzt mich an Impfungen, ruft er mich zu Nachkontrollen? Und ich kann natürlich nachfragen! Ein guter Allgemeinmediziner ist bereit darüber Auskunft zu geben, wie er sich fortbildet, welche Schwerpunkte er hat.

MARIA WENDLER: Man muss damit umgehen können, dass man hinterfragt wird. Denn wenn der Patient von mir die Information, die er haben will, nicht bekommt, googelt er so lange, bis er eine Antwort hat. Daher ist das Gespräch mit Patienten sehr wichtig – und dann muss man als Arzt auch zeigen können: Das steht hier in den Leitlinien, deshalb mache ich das so.

Kl.: Noch einmal zurück zum Landärztesterben: Welche Anreize braucht es für Jungmediziner, in die Praxis zu gehen?

MICHAEL WENDLER: Je früher der Medizinstudent sieht, wie es in der Praxis läuft, desto eher entscheidet er sich für die Allgemeinmedizin. Es bräuchte eine Frühfarmulatur, um zu sehen, wie es in der Praxis wirklich aussieht. Aber es werden jungen Ärzten auch viele Hürden in den Weg gestellt: Warum ist es für eine junge Frau, die Allgemeinmedizin machen möchte, kaum möglich, eine Doppelpraxis zu gründen und Teilzeit zu arbeiten?

MARIA WENDLER: Eines unserer wichtigsten Anliegen ist, nicht mehr das Gefühl zu haben, in der Praxis auf uns alleine gestellt zu sein. Zwar baut sich jeder Hausarzt sein Netzwerk an Kollegen, Physiotherapeuten oder Fachärzten – aber es ist mühsam. Das zu erleichtern, wäre ein großes Ziel.

INTERVIEW: SONJA SAURUGGER (Kl)