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Covid-19: Endemie Ende nie. Eine Polemik

Der Höhepunkt der aktuellen Welle ist noch nicht einmal erreicht – im Gegenteil, vielerorts explodieren die Infektionszahlen munter weiter – , schon werden erste Stimmen laut, bald sei es mit Corona vorbei. Unsere „alte Normalität“ käme uns zum Greifen nahe. Dank Omikron – und der Tatsache, dass sich dermaßen viele anstecken – , sei eine Art Herdenimmunität in Reichweite. Das war’s, der letzte harte Winter. Ein bisschen Impflücken auffüllen, ein paar Witwen trösten, und dann endlich… Juhuu, die Endemie winkt!

Schön wär’s! Oder etwa nicht? Selbst Nicht-VirologInnen macht dieser plötzliche Zweckoptimusmus stutzig, nicht zuletzt, weil sogar einzelne ExpertInnen vom Fach, die es besser wissen müssten, das neuerdings hinausposaunen: Augen zu und durch, bald ist’s überstanden. Doch solche Schlüsse zu ziehen (Omikron als willkommener Übergang zur lang ersehnten Normalität), ist nur möglich, wenn dabei Variablen sowie Unbekannte ausgeblendet werden. Die Rechnung erweist sich als wenig weitsichtig und sie geht nur dann auf, wenn die aktuelle Mutante quasi als finale Stufe der SARS-Evolution betrachtet wird, als sei diese mild genug und als käme fortan bloß belangloses nach. Ist dem tatsächlich so?

Niemand kann in die Zukunft blicken. Und es wäre nicht das erste Mal, dass uns eine Normalität in Aussicht gestellt wird, völlig verfrüht. Andere VirologInnen bezweifeln daher diese Ansicht und widersprechen dem vorschnellen Optimismus ihrer KollegInnen. Ohnehin steht bereits eine Omikron-Subvariante in den Startlöchern, von der Sie wohl noch hören werden (BA.2, nach der Ebbe kommt die Flut). Abgesehen davon sind selbst elementare Fragen zur effektiveren wie medikamentösen Behandlung teils unbeantwortet, Long Covid bisher nicht gezielt heilbar. Ja, es ist nicht einmal zur Gänze verstanden, was Corona im Körper alles an Schaden anrichtet. Wie kann sich da irgendwer auf eine Endemie freuen?

Hinzu kommt, dass sich genausogut neuartige Varianten herausbilden können, mit erneut mehr Immune Escape oder anderen Eigenschaften. Die körpereigene Abwehr würde wieder ausgetrickst, der Impfschutz unterlaufen, und damit der erhoffte Omikron-Effekt rasch verpuffen… Halt, Moment! Hatten wir das nicht gerade eben? Alpha, Delta, keines war erfreulich. Immer dachten wir, es geht nimmer schlimmer. Und jetzt ist das neue Omikron noch nicht einmal ausgestanden, und schon wieder die alten Denkmuster: gleich ist’s mit der Pandemie vorbei, Zähne zusammenbeißen. Von wegen! Vielmehr sei die Frage erlaubt: Wer lernt hier nicht dazu?

Nur das Virus? Das wäre alles andere als zielführend. Denn das entwickelt sich laufend weiter. Unsere Meinung, die ist Omikron reichlich egal. Nur der Impfstatus zählt. Soviel ist bekannt. Das soll Sie nicht entmutigen. Ein Weg aus dem Dilemma wird sich finden, auch bessere Therapieansätze. Bestimmt. Doch der Endemie-Diskurs momentan, der ähnelt lediglich einer müßigen Glaubensfrage – wann kommt das Ende? – , und schadet der Sache mehr als er nutzt. Wer soll im Hier & Jetzt Schutzmaßnahmen Ernst nehmen, all die Entbehrungen tagtäglich auf sich nehmen, wenn medial breitgetreten wird, welche Vorteile wir der Durchseuchung zu verdanken hätten? Bald ohnehin alle genesen oder geimpft! Den Toten gedenken. Kerze an. Pandemie-Aus. Happy-End.

So einfach ginge es. Wann wo welche „G“ gelten und mit wievielen Plus? Davon haben die meisten sowieso die Nase voll. Verständlicherweise. Wenig verwunderlich, dass im Corona-Alltag in Wahrheit längst alle tun, wie er/sie es gerade glaubt, weniger was vorgeschrieben ist (wie der zahnlose Lockdown für Ungeimpfte zeigt) oder medizinisch eigentlich ratsam wäre (außer es gibt was auf die Finger). Nachvollziehbar mag das ja sein, so eine Trotzreaktion, jedoch wenig hilfreich zur Pandemie-Bekämpfung. Dem Virus lässt es völlig kalt, wer was aus welchen Motiven heraus tut (oder nicht tun mag). Jetzt noch eine Portion falsche Hoffnung und überhöhte Erwartung dazu, und die Sache ist gelaufen, ganz gleich, ob Sie oder ich das wollen: der endemische Zustand kommt von selbst.

„G“ zum Teufel. Auf die Weise würde die Entwicklung irgendwann sowieso ungebremst, das Infektionsgeschehen hierzulande „endemisch“. Wer das gutheisst, sollte sich im Klaren sein, dass es in Folge auch weiterhin wen hart und unfair treffen wird, und das auch im eigenen persönlichen Umkreis (oder direkt Sie), die nie gefragt wurden, ob sie das möchten, sich ihren plötzlichen Schicksalschlag nicht ausgesucht haben, sondern damit leben lernen müssen, während ihre Nachbarn vergnügt auf Urlaub fliegen. Für den Fall der Fälle gibt es immerhin Wartelisten für einen Reha-Platz oder eine psychologische Betreuung für die Hinterbliebenen. Leuten, die gerne Party machen, wird das wurscht sein. Denen ist die Frage der Sperrstunde wichtiger. Denn das… das ist Endemie!

Denn was bedeutet Endemie real? Endemie ist kein Übergang in einen „höheren Zustand“, den wir voller Weisheit anstreben, sondern tritt ein, sobald das Virus für ‚die Menschheit‘ als verkraftbar gilt. Was allerdings als verkraftbar gilt, ist Verhandlungssache. Es stellt mit Sicherheit nicht das Ende der Erkrankung dar. Auch Malaria ist endemisch. Einzelpersonen werden weiter damit ringen. Gesellschaftlich kommt der Übergang daher eher einem Ende von gegenseitiger Solidarität nahe, wohingegen sich das Virus in Teilen der Bevölkerung festsetzt. Zumindest sollte die Öffentlichkeit das befürchten bzw. sich Gedanken über negative Konsequenzen machen, statt vorschnell eine Endemie herbeizusehen. In Folge wird nämlich jedeR selber schaun müssen, wo er/sie bleibt…

Der Unterschied zwischen
einer Pandemie und einer Endemie:
eine Endemie endet nie.

Wurde die Pandemie für beendet erklärt, werden damit zusammenhängende Beschränkungen weitgehend aufgehoben. Ein „G“ nach dem anderen fällt weg. Dass die ursprünglich nicht dazu da waren, die Bevölkerung zu nerven, sondern alle Mitglieder gleichermaßen vor Covid zu schützen, ist vergessen. Die Leute freuen sich darüber. Kein Problem. Die Krankenhäuser sind aufnahmebereit. Das Virus hingegen zirkuliert frei, dauerhaft. Das eigentlich, und nur das, bedeutet „endemisch“. Aber eine Maske aufsetzen, das wird keineR mehr extra für Sie, außer Sie sind streitsam genug. Toi, toi, toi.  Doch ausgerechnet Sie haben Pech? Ein Bett mit Beatmung steht für Sie bereit. Sie bräuchten bloß durchzuhalten. 

Endemie hat also wenig mit dem Ende von Corona zu tun, noch weniger mit dem Ende allen Leids. Insbesondere ist es kein anzustrebender Zustand großer Glückseeligkeit, wie es im Moment das Gerede in den Medien suggeriert, sondern es ist schlicht auf lange Sicht ein notwendiges Übel. Voraussetzung dafür ist, dass es weniger Mitmenschen schwer (oder gar tödlich) trifft, zumindest nicht häufiger als unser Gesundheitssystem das verkraften kann. Wo diese Grenze jedoch exakt liegt? Das definieren weder Sie noch ich. Wegfallen tun dafür die allgemeinen Schutzmaßnahmen, nicht die Krankheit und ihre Folgen für die Betroffenen. Die bleiben.

Warum soviel Vorfreude? „Endemie“, das ist keine uns rettende Sakralslehre, wie’s zurzeit von mancher Seite her ertönt. Es bedeutet nicht viel mehr, als dass das Virus unter uns ist, in unserer Mitte angekommen ist, und die Gesellschaft einen Modus gesucht und gefunden hat, damit umzugehen. Ob Sie oder ich diesen Modus im Detail gut finden oder wer von uns durch Lockerungen besonders gefährdet wird (wie aufgrund persönlicher Risikofaktoren, die sich keineR aussuchen kann), ist sekundär. Leider. Seien Sie sich dessen bewusst: Die Gesellschaft wird das Virus überleben. Keine Angst. Doch Sie oder ich? Das ist keine endemische Frage!

Bleibt zu hoffen, dass der Krankheit reichtzeitig der Stachel gezogen wird. Denn die Endemie, die wird kommen. Das scheint fix. Wann genau? Das ist offen. Und bis zu einem gewissen Grad entscheiden wir das (noch) mit – solange sich das Gemeinwesen weiter auf Maßnahmen verständigt. Sobald (so gut wie) alles erlaubt ist, ist der Zug (wahrscheinlich) abgefahren. Es wird sich später keine Mehrheit mehr für striktere Maßnahmen finden. Wir sollten daher nicht verfrüht eine Endemie herbeireden, bloß weil wir uns nach zwei Jahren mühsamen Pandemie-Alltags alle reif für die Insel fühlen, sondern lieber über unsere gemeinsame Zukunft diskutieren: Wie wollen wir leben? Das kann uns die Politik nicht abnehmen. Am Besten fangen wir mit den Nachbarn an, bevor die Urlaub fliegen. Das Klimaproblem ist ja ohnehin noch nicht gelöst…

 

P.S.: Gerade jene, die am lautesten nach Rückkehr zur Normalität schreien, wie Maßnahmengegner und Impfskeptikerinnen, wären gut beraten, sich das lieber noch einmal genauer zu überlegen…

Be careful what you wish for.